Nazad
Erinnerung Transnationaler Widerstand

„Widerstand ist nicht der Kult der Vergangenheit“

Am 6. Juni 1994 versammelten sich zahlreiche internationale Staats- und Regierungschefs in Frankreich, um den 50. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 1944 zu begehen und die Bedeutung dieses Ereignisses für die Befreiung Europas vom Faschismus und die Beendigung des Krieges zu unterstreichen.

Doch zur gleichen Zeit fand in Europa ein neuer Krieg statt, in Bosnien und Herzegowina. Die internationale Staatengemeinschaft stand diesem Krieg weitgehend gleichgültig gegenüber und weigerte sich, die Verteidiger des unabhängigen und multiethnischen Bosnien und Herzegowinas politisch und militärisch zu unterstützen. Diese Haltung schockierte viele im belagerten Sarajevo, und auch in anderen Teilen Europas organisierten zivilgesellschaftliche Gruppen Aktivitäten, um ihre Solidarität mit Bosnien und Herzegowina zum Ausdruck zu bringen und gegen die Haltung ihrer eigenen Regierungen zu protestieren. Eine dieser Aktivitäten war eine am 4. Juni 1994 in Caen (Normandie) organisierte Demonstration, kurz vor dem offiziellen Gedenktag für die Landung der Alliierten. An der Demonstration nahmen etwa 10.000 Menschen teil ; organisiert wurde sie von der Initiative „Bürger für Bosnien-Herzegowina und gegen ethnische Säuberung“ und anderen französischen Solidaritätsgruppen. Mit der Wahl dieses Datums und Ortes wollten die Organisatoren auf den Widerspruch zwischen einerseits den Feierlichkeiten der Regierungen zum Widerstand gegen den Faschismus im Jahr 1944 und andererseits ihrer aktuellen Haltung gegenüber Bosnien und Herzegowina hinweisen. In einem ihrer Flugblätter, mit dem Titel „Am 4. Juni in Caen: Lasst uns gegen eine neue Barbarei demonstrieren / Für ein solidarisches Europa mit Bosnien“, schrieben die Organisatoren:

„(…) WIDERSTAND ist kein Kult der Vergangenheit, die ERINNERUNG an vergangene Massaker darf nicht die der Gegenwart in den Hintergrund treten lassen. (…) Wir werden am 4. Juni nach Caen fahren, um an diesem hohen Ort der Befreiung zu bekräftigen, dass man nicht die Widerstandskämpfer von gestern feiern und gleichzeitig die Widerstandskämpfer von heute in Bosnien im Stich lassen kann. Sie kämpfen für die gleiche Sache: Sie lehnen die Zerstörung ihres Landes und Europas durch rassistische Nationalismen ab. Unsere Regierungen hätten auf der Seite dieses Widerstands stehen müssen. Wir stehen an seiner Seite. (…)“

Die Demonstration wurde von mehreren ehemaligen Widerstandskämpfern unterstützt, unter ihnen Marek Edelman, einer der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto gegen die Nazis im Jahr 1943, und Jean-René Chauvin, ehemaliges Mitglied des französischen Widerstands und Überlebender von Mauthausen, Auschwitz und Buchenwald. Jean-René Chauvin verfasste einen Aufruf zur Demonstration, der mit folgenden Worten endete:

“Alle zusammen könnten wir diese beiden Slogans der jugoslawischen Partisanen aufgreifen, die gemeinsam gegen die Hitler-Besatzung gekämpft haben:
BRATSTVO-JEDINSTVO: BRÜDERLICHKEIT-EINHEIT
SMRT FASIZMU – SLOBODA NARODU: TOD DEM FASCHISMUS – FREIHEIT DEM VOLKE

 

Nicolas Moll

Quellen/ Weiterführende Literatur
  • Nicolas Moll, “Spain, Munich, Auschwitz: The role of historical analogies in the protest movements in Europe against the war in Bosnia and Herzegovina, 1992-1995”, in Memory and Social Movements, ed. by Stefan Berger and Christian Koller, 2024.
  • “Wake up Europe! 100 stories about solidarity in times of war”, Digitale Plattform des Historischen Museum von Bosnien und Herzegowina in Sarajevo: https://wakeupeurope.ba/shop/?lang=en

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