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Sylvin Rubinstein, der Tanz der Rache

Sylvin Rubinstein und seine Zwillingsschwester Maria wurden 1914 in Moskau als Kinder eines russischen Aristokraten und einer jüdischen Tänzerin geboren. Wegen der russischen Revolution und antisemitischer Pogrome zog die Mutter mit ihren Kindern nach Polen. Maria und Sylvin waren fasziniert vom Flamenco-Tanz und wurden ein viel beachtetes Duo mit dem Namen „Imperio y Dolores“ (Herrschaft und Leiden). In den 1930er Jahren führte ihr Erfolg sie auf die renommiertesten Bühnen Europas. Sie traten gerade in Warschau auf, als Deutschland im September 1939 in Polen einmarschierte und die Familie im Warschauer Ghetto eingesperrt wurde. Ihre Begegnung auf einem Bahnsteig mit Kurt Werner, einem Wehrmachtsoffizier und überzeugten Anti-Nazi, erwies sich als Glücksfall. Der Offizier erkannte das Tanzpaar, weil er eine ihrer Aufführungen in Berlin besucht hatte, und bot ihnen die Möglichkeit zur Flucht aus dem Ghetto. Maria entschied sich, nach Brody zurückzukehren und zu versuchen, ihre Mutter aus der Stadt herauszubringen. Sylvin beschloss, Kurt Werner zu folgen und sich dem Widerstandsnetz „Papa Kurt“ in Krosno in Südpolen anzuschließen. Das war das letzte Mal, dass die Zwillinge einander sahen: Maria und ihre Mutter wurden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Der Verlust seiner Schwester und seiner Mutter verfolgte Sylvin für den Rest seines Lebens und schürte seinen Rachedurst, der ihn nach eigener Aussage „in eine Hyäne“ verwandelte.

In Krosno wurde Sylvin unter dem Decknamen „Turski“ aktives Mitglied des Widerstandsnetzwerks „Papa Kurt“, nahm an Sabotageaktionen teil und führte immer riskantere Aktionen durch. Um seine Identität zu verbergen, verkleidete er sich als Flamencotänzer und nahm die Identität von Dolores an, die er rächen will. In dieser Verkleidung betrat er im Sommer 1942 eine Brasserie in der Adolf-Hitler-Straße in Krosno, wo Dutzende von SS- und Gestapo-Angehörigen eine Hochzeit feierten. Unter seinem Kleid hatte er zwei Granaten versteckt, mit denen er das Fest in eine „blutige Hochzeit“ verwandelte. Nach diesem Anschlag schickte „Papa Kurt“ seinen Schützling nach Berlin, wo Sylvin seine geheimen Aktivitäten so diskret wie möglich fortsetzte. Doch 1944 entdeckte er als Dolores verkleidet auf einer belebten Straße in der deutschen Hauptstadt ein hochrangiges Mitglied der Gestapo. „Dolores“ ging mit einem Rosenstrauß in der Hand auf ihn zu, zog eine Pistole und tötete den Offizier. Nach dem Krieg zog Sylvin nach Hamburg, wo er einen Second-Hand-Laden betrieb, während er unter dem Namen Dolores seine Karriere als Tänzer fortsetzte und ehemalige Nazis aufspürte. Kurt Werner kehrte in sein Dorf zurück, um seine Stelle als Lehrer anzutreten. Es dauerte lange, bis die beiden über ihre heldenhafte Vergangenheit sprachen.

Im April 2011 fiel der Vorhang für Sylvin Rubinstein, doch sein romanhaftes Leben inspiriert weiterhin Schriftsteller und Autoren aus der Welt des Tanzes und Theaters.

 

Mari-Édith Agostini

Quellen/ Weitere Informationen
  • Jean-Yves Le Naour, Sylvin Rubinstein. Du flamenco à la résistance , Historia n°857, 2018.
  • Annabelle Georgen, ”Sylvin Rubinstein, le danseur de flamenco qui se déguisait en femme pour tuer des nazis”, Slate, 8 march 2018: https://www.slate.fr/story/157459/sylvin-rubinstein-assassin-nazis-deguisement-femme
  • Kuno Kruse, Dolores & Imperio: Die drei Leben des Sylvin Rubinstein, Kiepenheuer und Witsch, 2003.
  • Marie Charrel, Les danseurs de l’aube, roman, L’observatoire, 2021.
Video

„Er tanzte das Leben. Sylvin Rubinstein“, documentary-film by Maria Czura and Kuno Kruse, 2004. Extract:

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