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Gewaltfreier Widerstand Kultur und Kunst

Die Macht des Schweigens, die Macht der Worte

„Le silence de la mer“ (Das Schweigen des Meeres) ist einer der bekanntesten Texte der französischen Résistance. Er wurde im Sommer 1941 von Jean Bruller geschrieben, einem Grafiker, der gerade in ein Armeebataillon in den Alpen eingezogen worden war. Um anonym zu bleiben, benutzt der Autor ein Pseudonym: Er wählt den Namen “Vercors”, inspiriert von der Schönheit der umliegenden Berge und des gleichnamigen Gebirgsmassivs, und behält dieses Pseudonym sein ganzes Leben. Zusammen mit seinem Freund und Schriftsteller Pierre de Lescure gründet Vercors 1942 im besetzten Paris heimlich den Verlag „Les Éditions de Minuit“, um zunächst diesen Roman und dann weitere Werke zu veröffentlichen. Zusammen mit diesem ersten Buch veröffentlichen sie ein Manifest, eine Hommage an die Gedankenfreiheit und vor allem eine Antwort auf die von der Nazi-Propaganda auferlegte literarische Zensur.
Vercors stellt das Schweigen als einen Akt zivilen Widerstands dar. Die Geschichte ist inspiriert von seinen eigenen Erfahrungen zu Beginn der Besatzung, als die deutsche Armee französische Häuser beschlagnahmte. In der Geschichte werden ein Mann und seine 16-jährige Nichte gezwungen, einen deutschen Offizier bei sich aufzunehmen. Da sie seine Anwesenheit ablehnen, treffen sie die stillschweigende Vereinbarung, ihn zu ignorieren, ihren gewohnten Tagesablauf beizubehalten und nicht auf Fragen seinerseits zu reagieren. Der Offizier macht es sich dann zur Gewohnheit, sich abends im Wohnzimmer aufzuwärmen, in dem der Mann und seine Nichte sich aufhalten. Bei jedem Besuch erzählt er von seiner Leidenschaft für die Musik, die Literatur und wider Erwarten auch für Frankreich. Er wird täglich mit dem Schweigen der Gastgeber konfrontiert, die sich weigern, mit dem Feind zu kommunizieren.
Das Schweigen erhält im Laufe der Geschichte verschiedene Bedeutungen. Es ist ein Zeichen der Verachtung und des Widerstands gegen die Besatzer, ein Mittel, die eigene Würde zu bewahren, aber es versinnbildlicht auch die Unbeweglichkeit der Gastgeber und ganz Frankreichs. Das Verhalten der Protagonisten erinnert an einen „Ratschlag an die Besetzten“, den Jean Texcier 1940 in einer geheimen Broschüre verfasste und in dem er die Verachtung für die deutsche Sprache propagiert: „Du kennst ihre Sprache nicht oder hast sie vergessen. Wenn dich einer von ihnen auf Deutsch anspricht, mach ein Zeichen der Ratlosigkeit und geh weiter.“ Als seine Gastgeber ihn schätzen zu lernen beginnen, gibt der Offizier seinen Glauben an eine deutsch-französische Annäherung auf und verschwindet auf schmerzliche Weise aus ihrem Leben, indem er sich an die Ostfront meldet und sich damit für den sicheren Tod entscheidet. Genau in dem Moment, in dem der Offizier nicht mehr an die Freundschaft zwischen beiden Ländern glaubt, äußert die Nichte ein Zeichen der Sympathie, indem sie ihm vor seiner Abreise „Adieu“ zuflüstert.
Nach der Befreiung Frankreichs wurde dieser Roman vielfach übersetzt und für Kino und Theater adaptiert. Bis heute gilt diese patriotische Geschichte als ein Symbol für den Triumph des passiven und intellektuellen Widerstands.

 

Auriane Jousse

Quellen /Weiterführende Literatur
Video

Trailer zum Film „Le silence de la mer“, von Jean-Pierre Melville, 1949:

Trailer (mit englischen Untertiteln) zu „Le silence de la mer“, von Pierre Butron, 2004:

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