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Kultur und Kunst Widerstand in Städten

August und Erich Sander: Portrait einer Epoche

August Sander (1876-1964) gilt als der Vater der Dokumentarfotografie. In seinem Werk Menschen des 20. Jahrhunderts zeichnete er ein vielschichtiges und kompromissloses Sozialporträt der deutschen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Machtergreifung Adolf Hitlers im Januar 1933 stellte für die Künstler der Zeit einen wichtigen Wendepunkt dar. Bereits 1936 wurde Sanders 1929 veröffentlichte Sammlung Antlitz der Zeit verboten und die Fotoplatten vernichtet. Der Grund dafür war, dass sein Werk nicht der nationalsozialistischen Ideologie eines heldenhaften Deutschlands und einer “reinen Rasse” entsprach. Den idealisierten Ariern mit ihren muskulösen Körpern und reinen Gesichtern wurden alle „Asozialen“ gegenübergestellt ‒ die Behinderten, die Kranken, die Landstreicher ‒ diejenigen, die als „lebensunwerte Wesen“ bezeichnet werden.

Erich Sander (1903-1944) war der älteste Sohn von Anna und August, ein Intellektueller, politischer Aktivist und Widerstandskämpfer, der von seinem Vater, mit dem er zusammenarbeitete, in die Fotografie eingeführt wurde. In Köln übernahm er zusammen mit seinem Genossen Ernst Ransenberg die Leitung der örtlichen Sektion der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland (SAP) und schrieb und veröffentlichte Flugblätter gegen die NSDAP. Im Jahr 1934 wurde Erich verhaftet und wegen Hochverrats zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Er arbeitete als Fotograf für die Gefängnisverwaltung und schaffte es, sich heimlich eine Kamera zu besorgen, mit der er Porträts von sich und seinen Mitgefangenen machen konnte, die er aus dem Gefängnis schmuggelte. Er hinterließ eine umfangreiche Korrespondenz mit seiner Familie (einige Briefe waren mit Geheimtinte geschrieben), die ein wichtiges Dokument über das Leben im Gefängnis während des Nationalsozialismus darstellen.

Einer seiner Mitgefangenen war Marcel Ancelin, der 1923 in Paris geboren wurde. Er war Mitglied der kommunitisch geführten Widerstandsbewegung “Front National de Lutte pour la Libération et l’Indépendance de la France” (Nationale Front für den Kampf um die Befreiung und Unabhängigkeit Frankreichs) und später der FTP (Francs-Tireurs et Partisans) und wurde am 13. August 1941 von der französischen Polizei verhaftet. Er wurde an die deutschen Behörden ausgeliefert und zu Zwangsarbeit verurteilt. Er verbrachte mehrere Jahre in Lagern und Gefängnissen in Deutschland, unter anderem in Siegburg, wo er Erich Sander kennenlernte. Ancelin wurde schließlich im April 1945 zusammen mit anderen Häftlingen von amerikanischen Truppen aus einem Lager in der Nähe von Frankfurt befreit und kehrte nach Frankreich zurück. Am 8. November 1956 erhielt er den offiziellen Titel eines „deportierten Widerstandskämpfers“. Marcel Ancelin starb 2003, ohne seiner Familie oder seinen Freunden je von seiner heldenhaften Vergangenheit erzählt zu haben.

Erich Sander schrieb über Ancelin in einem Brief an seine Eltern: „Einer der drei (Franzosen) hat sehr auffällige Gesichtszüge, was Vater sicher Freude bereiten wird […] Übrigens ein sehr intelligenter Bursche. Er will mich nach dem Krieg besuchen kommen.“ Erich Sander erlebte das Ende des Krieges jedoch nicht mehr. Er starb am 23. März 1944, nachdem seine starken Bauchschmerzen von den Gefängnisbehörden tagelang ignoriert worden waren.

 

Marie-Édith Agostini

Quellen / Weitere Informationen
  • August Sander, Persécutés / persécuteurs, des Hommes du XXe siècle (Persecuted / persecutors of Men in the 20th century), Stiedl – Mémorial de la Shoah (2018).
  • NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, SK Stiftung Kultur, Erich Sander, Gefängnisbriefe 1935 – 1944 (Prison letters), Metropol Verlag (2016).
  • Olivier LUGON, Landschaften, Die Photographische Sammlung/Sk Stiftung Kultur, Cologne ; Schirmer/Mosel (Munich/Paris/Londres, 1999)
  • Susanne LANGE, Gabriele CONRATH-SCHOLL, Gerd SANDER, Menschen des 20. Jahrhunderts: Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen éd. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Cologne ; 7 vol. (all., angl. et fr.), (Schirmer/Mosel, Munich, 2002)
  • Claire ASLANGUL, Le nazisme et les images : un univers visuel au service de la propagande nazie (Nazism and images: a visual universe at the service of Nazi propaganda), La Clé des Langues, Lyon, ENS de LYON/DGESCO (2007) https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/histoire/le-nazisme/le-nazisme-et-les-images

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