Gertrud und Gustav Pietsch haben eine bedeutende Rolle bei der Rettung polnischer Juden vor dem Holocaust gespielt. Sie ermöglichten mindestens 77 von ihnen die Flucht oder Auswanderung nach Palästina. Die Pietschs stammten aus alteingesessenen Fischerfamilien. Beide wurden 1893 geboren. Sie heirateten 1918 und lebten von dann an in Danzig. Gustav Pietsch war Kapitän, seine Frau nähte Segel und stellte anderen Fischereibedarf her.
Danzig gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich. Nach der deutschen Niederlage 1918 und der Gründung der Republik Polen wurde Danzig nicht unter polnische Souveränität gestellt, da die Mehrheit der Bevölkerung deutsch war. Die Stadt erhielt einen Sonderstatus mit einer eigenen Stadtregierung. In den 1930er Jahren kamen die Nationalsozialisten auch in Danzig an die Macht und die polnische Minderheit in der Stadt wurde diskriminiert, insbesondere die polnischen Juden.
Die Familie Pietsch war nicht jüdisch. Sie stand aber den Nationalsozialisten kritisch gegenüber und weigerte sich, der NSDAP beizutreten, was zu Verfolgung und Misshandlungen führte. Die Kinder der Familie wurden in der Schule misshandelt und diffamiert.
Gustav Pietsch unterstützte ein einzigartiges Projekt in der jüdischen Geschichte: eine Seefahrerschule in der polnischen Hafenstadt Gdynia, unweit von Danzig. Hier wurden polnische Juden in der Fischerei und Navigation ausgebildet. Als die Diskriminierung und Verfolgung von Juden in Danzig zunahm, verstecken Gertrude und Gustav Pietsch Juden und halfen ihnen, aus Danzig zu fliehen und nach Gdnyia zu kommen. Viele von ihnen wanderten später nach Palästina aus und können so dem Holocaust entgehen.
Gustav und Gertrud Pietsch mussten 1938 aufgrund der sich immer weiter steigernden Verfolgung durch die Nationalsozialisten selbst nach Palästina auswandern. Dort gründete Gustav Pietsch mit ehemaligen Schülern und seinen Söhnen das Fischerdorf Neve Yam. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Gustav Pietsch zunächst als “feindlicher Ausländer” („enemy alien“) von den britischen Verwaltungsbehörden Palästinas interniert. Später wurde er Hafenmeister der Stadt Eilat. 1959 kehrte das Ehepaar Pietsch nach Deutschland zurück und wohnte in Berlin. Da zu diesem Zeitpunkt keine diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel bestanden, konnte Pietsch seine israelischen Versorgungsansprüche nicht geltend machen, so dass er und seine Frau von Sozialhilfe leben mussten. 1960 wurde er als Verfolgter des NS-Regimes nach dem Bundesentschädigungsgesetz anerkannt und ein Jahr später vom Berliner Senat im Rahmen der Aktion „Unbesungene Helden“ ausgezeichnet, die Personen ehrte, die Juden geholfen hatten. Sie erhielten Entschädigungszahlungen und eine Rente. Kurz danach emigrierte das Ehepaar nach Australien zu ihrer Tochter Ursula. Dort starben sie im Jahr 1975.
Über seine Zeit in Berlin sagte Gustav Pietsch: „Sie gaben eine Cocktailparty für mich, schmeichelten mir und umschmeichelten mich, und ich blieb bei meiner Meinung, ich hörte nicht auf, ihnen zu sagen: Ihr seid alle Nazis, die ihr Fell gewechselt habt, wir können euch nicht vertrauen, sondern nur jungen Kindern, die nach dem Krieg geboren wurden.“
Gustav und Gertrud Pietsch sind heute weitgehend vergessen. Es gibt keine Denkmäler für sie. Ihre Geschichte verdeutlicht, welche Möglichkeiten es auch für „einfache“ Deutsche gegeben hätte, Juden zu retten.
Robert Parzer