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Sophie Scholl als Symbol für „den“ deutschen Widerstand

Im Frühsommer 1942 findet sich an der Münchner Universität eine Gruppe von Studierenden zusammen, die sich „Weiße Rose“ nennt. Sie verfassen mehrere Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur aufrufen. Auch in Hamburg und anderen Orten entstehen ähnliche Gruppen.
Obwohl sie nicht alleine handelte, ist Sophie Scholl heute das bekannteste Gesicht der „Weißen Rose“. 1921 geboren, tritt sie als 13-jährige in die nationalsozialistische Organisation „Bund Deutscher Mädel“ ein und wird dort Gruppenleiterin. Später distanziert sie sich vom NS-Regime. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans wird sie im Februar 1943 festgenommen, als die Geschwister gerade Flugblätter an der Münchner Universität auslegen. Nur wenige Tage später werden beide am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und noch am selben Tag im Strafgefängnis München-Stadelheim ermordet. Auch andere Mitglieder der „Weißen Rose“ erhalten lange Haftstrafen oder Todesurteile.
Während in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik und der DDR zunächst an beide Geschwister erinnert wird, rückt Sophie Scholl immer mehr in den Vordergrund. Dabei wird ihr gesamtes Leben auf ihre Widerstandshandlungen reduziert und Widersprüchlichkeiten in ihrer Biographie ausgeblendet. Sie gilt als junge, unpolitische, unschuldige und attraktive Frau aus einem bürgerlichen Elternhaus und scheint sich deshalb besonders gut als Identifikationsfigur zu eignen.
2021 veröffentlichen die deutschen Fernsehsender Südwestrundfunk und Bayerischer Rundfunk angesichts ihres 100. Geburtstages ein umstrittenes Instagram-Projekt mit dem Titel “Ich bin Sophie Scholl”. Hier werden die letzten Monate ihres Lebens so nachgestellt, als ob Sophie Scholl die Nachrichten selbst gepostet hätte. Das Projekt gerät wegen historischer Ungenauigkeiten in die Kritik.
Auch undemokratische und rechtsextreme Gruppierungen in Deutschland vereinnahmen Sophie Scholl. Mitglieder der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) beziehen sich bspw. in ihrer Propaganda und politischen Aktionen auf Sophie Scholl. Sie ziehen dabei falsche Vergleiche zwischen der heutigen Demokratie und dem NS-Staat und behaupten, von der heutigen Regierung in Deutschland unterdrückt zu werden.
Auf diese Weise wird der Widerstandsbegriff verwischt und ein wichtiger Unterschied ignoriert: Denn während es in der jetzigen deutschen Gesellschaft durchaus möglich ist, verschiedene politische Positionen zu vertreten, Kritik an der Regierung zu üben oder sogar das demokratische System in Frage zu stellen, konnte noch die leiseste Kritik am Handeln des nationalsozialistischen Staates mit einer Todesstrafe enden. Letzteres zeigt das Beispiel von Sophie Scholl und anderen Mitstreitern und Mitstreiterinnen der „Weißen Rose“.

 

Dagmar Lieske

Quellen / Weiterführende Literatur

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