1933, nach einem besonders gewalttätigen Vorgehen der SS im Konzentrationslager Börgermoor in Norddeutschland, bat der kommunistische Häftling Wolfgang Langhoff den Kommandanten darum, eine Zirkusvorstellung im Lager zu organisieren. Ziel war es, der Demoralisierung der Häftlinge entgegenzuwirken, und tatsächlich fand dieser Zirkus Konzentrazani am Sonntag, dem 27. August 1933, statt. Auf dem Programm standen Turner, Ringer, Akrobaten, zwei Clowns, ein Komödiant und Tänzer. Musikalische Einlagen wurden mit behelfsmäßigen, von den Häftlingen gebauten Instrumenten gespielt, und das Programm endete mit vierstimmigen Liedern, die von einem Chor a capella gesungen wurden.
Das letzte Lied war das Börgermoorlied. Von einem Amateurmusiker komponiert, Rudolf Goguel, auf ein sechsstrophiges Gedicht von Johann Esser, prangerte es die Lebensbedingungen im Lager an und drückte die Hoffnung auf eine zukünftige Befreiung aus. Seine allgemeine Ästhetik war stark vom Repertoire der kommunistischen Arbeiterlieder der Weimarer Jahre beeinflusst. Es bezeichnete die Häftlinge als „Moorsoldaten“ und spielte damit auf ihr militärisches Aussehen an, wenn sie Tag für Tag aus dem Lager marschierten, mit ihren Spaten, die sie wie Gewehre über den Schultern trugen, um gezwungenermassen im nahe gelegenen Moor zu arbeiten.
Das Lied fand sofort großen Anklang bei den Häftlingen, aber auch bei den Mitgliedern der SS im Lager. In den folgenden Tagen bestellten einige von ihnen sogar ein Exemplar der Noten, um es ihren Familien zu schicken. Das Lied verbreitete sich schnell in Deutschland und ganz Europa, sowohl innerhalb des Lagersystems als auch in den Ländern, in welche deutsche politische Flüchtlinge ins Exil gingen ‒ in zwei verschiedenen musikalischen Versionen: eine von Hanns Eisler, der das Lied in London von einem deutschen Exilanten hörte und eine Bearbeitung im Stil der ihm liebgewordenen Kampflieder anfertigte, und eine, die in NS-Lagern von den Häftlingen aus dem Börgermoor nach ihrer Verlegung gesungen wurde. Durch seine Form, seine Ästhetik und die Bedingungen seiner Entstehung ebnete das Börgermoorlied auch den Weg für die Komposition von Lagerliedern in anderen Lagern.
Während des Spanischen Bürgerkriegs wurde Eislers Version von seinem Kameraden Ernst Busch aufgenommen und in verschiedenen Bataillonen der Internationalen Brigaden gesungen. Das Lied verbreitete sich in vielen Kreisen des antinazistischen Widerstands und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, auch in französischen Internierungslagern, wo es als „Le chant des Marais“ bekannt wurde. Es entwickelte sich zu einem starken Symbol des Kampfes und der internationalen Solidarität gegen den Faschismus. Derzeit gibt es fast 200 Versionen des Börgermoorliedes. Noch heute zeugen seine zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen von der Fähigkeit des Liedes, eine transnationale Gemeinschaft im Gedenken an die Deportation und zur Verteidigung der Freiheitsrechte zu vereinen, und zwar über alle Grenzen und politischen oder religiösen Unterschiede hinweg.
Élise Petit